Das ist doch utopisch! So wird etwas abgetan, wenn eine Idee als unrealistisch, ja unerfüllbar angesehen wird. Und doch hat sie jeder: Träume, Wünsche, Idealvorstellungen. Vielleicht ist es nur die Vision, nie wieder arbeiten zu müssen und trotzdem zeitlebens genug Geld zu haben oder sich endlich mal von einem Ort zum anderen beamen zu können. Vielleicht ist es aber auch die Vision von einer besseren Welt - ohne Armut und Ausbeutung. Und der Wunsch, dass alle Menschen frei sind, es weltweit Frieden gibt. Kurz: das Paradies auf Erden.
Utopie (griechisch: ohne Ort), das ist das Wunschbild von einer fortschrittlichen Gemeinschaft, die in der Zukunft liegt. Thomas Morus (Sir Thomas More) hat im namengebenden Roman "Utopia" (1516) den Idealzustand einer solchen Gesellschaft beschrieben. In Utopia steht das Gemeinwohl über allem. So verachten die Bewohner des imaginären Landes Grausamkeiten an Mensch und Tier, es gibt nur wenige, aber klare Gesetze, Ärzte sind gut ausgebildet und Krankenhäuser ordentlich ausgestattet. Das höchste Ziel ist das Glück der Menschen. Die satirische Schrift des englischen Staatstheoretikers schildert nicht nur einen erhofften Gesellschaftszustand, sondern kritisiert vor allem die damals bestehenden sozialen Verhältnisse in England.
Erst die Utopie, dann die Praxis
Also entwarf More eine Gegenwelt, in der alle das gleiche Recht auf alles haben. Eine Maxime, die auch schon der Philosoph Platon in seinem Idealstaat festlegte. Durch die Beseitigung des Privateigentums soll der Naturzustand wiederhergestellt werden. Bis zum 19. Jahrhundert existierte diese Gesellschaftslehre nur in der Theorie. Erst dann entstand eine politische Bewegung, die versuchte, dies umzusetzen - der Kommunismus.
Im Jahr 1917 wurde unter der Führung Wladimir Iljitsch Lenins in Russland der erste kommunistisch regierte Staat der Welt errichtet. Die Utopie sollte Realität werden - und führte ins Elend. Schon unter Lenin selbst, erst recht aber unter seinem Nachfolger Josef W. Stalin entwickelt sich die Sowjetunion zu einer Diktatur. Die Masse der Bevölkerung wurde zu bloßen Objekten gesellschaftlicher Planung herabgesetzt. Stalin duldete keinerlei abweichende Meinung, seine Rivalen schaltete er brutal aus: Über zehn Millionen Menschen ließ er ab 1936 im Rahmen der so genannten "Großen Säuberung" kurzerhand als "Volksfeinde" einstufen und in Straf- und Arbeitslagern (GULag) verschwinden und umbringen.
Der Schrecken der Anti-Utopien
Die Erfahrungen mit Stalins Diktatur veranlassten den englischen Schriftsteller George Orwell, der einmal dem Kommunismus nahe gestanden hatte, eine satirische Fabel über das Verderben der kommunistischen Revolution durch ihre diktatorischen Funktionäre zu schreiben. "Farm der Tiere" (1945) wurde eines seiner berühmtesten Bücher. Es folgte vier Jahre später "1984", in dem Orwell eine Zukunftsvision vom totalitären Überwachungsstaat zeichnete. Den sehen manche heute schon erfüllt: durch Videokameras in U-Bahnen, in der Bank und durch TV-Shows wie "Big Brother".
Dystopien oder Anti-Utopien werden diese Schreckensvisionen genannt. Schon im Jahr 1932 kam ein anderer utopischer Roman auf den Markt: Aldous Huxleys "Schöne neue Welt". Huxley beschreibt darin, wie es wohl sein wird, wenn man in einer technologisierten Gesellschaft leben muss, die einer Gewaltherrschaft untersteht. Im 20. Jahrhundert wurden überwiegend Dystopien aufgestellt, es herrschte nach zwei Weltkriegen Angst vor weiteren Katastrophen. Die wachsende Technologisierung brachte die Furcht vor der Entindividualisierung.
Ewige Versprechen
Manchmal aber gab es sie noch, die Hoffung auf eine bessere Welt - und die Menschen, die für sie kämpften. Etwa Martin Luther King. Der Baptistenpfarrer führte die Massenbewegung der Schwarzen in den USA an, die erfolgreich - und mit gewaltfreien Mitteln - für die rechtliche Gleichstellung kämpfte. In seiner berühmt gewordenen "I have a dream ..."-Rede beschwor King seinen Traum von einer besseren Gesellschaft, in der Schwarze und Weiße gleichberechtigt leben können. 1964 wurde kurz darauf das Bürgerrechtsgesetz zur Aufhebung der Rassentrennung unterzeichnet, und Martin Luther King erhielt als erster Schwarzer den Friedensnobelpreis. An der schlimmen sozialen Lage vieler Schwarzer konnte aber auch King nichts ändern. Am 4. April 1968 wurde er von einem Rassisten in Memphis ermordet.
Bleiben also Werte wie Gleichheit und Freiheit immer eine Utopie? Organisationen und Initiativen - wie etwa die Globalisierungsgegner von Attac - glauben an die Chance der Veränderung. Ihr Motto: Eine andere Welt ist möglich. Wie diese Welt aber genau aussehen soll, darüber werden sich wohl nie alle Menschen einig werden. Letztes Beispiel Gentechnik: Für die einen das Versprechen auf ein gesundes und ewiges Leben, bedeutet sie für die anderen den Horror der Menschenzüchtung.
Alva Gehrmann hat gerade mit anderen jungen Journalisten ihr Büro "Freie Redaktion" in Berlin aufgemacht. Sie schreibt für Zeitungen wie den Tagesspiegel und das Parlament und Internet-Magazine wie spiegel-online.